»Geschichte ist gleichermaßen eine Frage des Wissens wie des Erzählens und in hohem Maße auch des Standpunkts, von dem aus erzählt wird«, schreibt Anselm Franke in seinem Essay zu den Arbeiten Ines Schabers. Und, dass eine Gesellschaft ihre typische Prägung an ihren Rändern erhalte. Franke nähert sich damit nicht nur dem politischen Kern von Schabers Arbeiten, er bringt auch den Kern des Interesses der vorliegenden Ausgabe auf den Punkt: das Oszillieren des Bildes zwischen dem Visuellen und dem Nicht-Visuellen und damit zwischen dem Sehen und Wissen, eine Resonanz zwischen Wörtern und Bildern.
Sie bergen einen unbenannten Ort, von dem aus sie zeigen und von dem aus sie sich zeigen, damit gleichzeitig etwas anderes verschwinden kann. Es fehlen nicht nur Bilder, es fehlt auch etwas in den Bildern. Dieses Abwesende ist aber nicht einfach unsichtbar, es markiert vielmehr die grundsätzliche Ambivalenz und Umstrittenheit der Bilder, als Erscheinung, als Bezeichnung, als Erzählung, als Geschichte, als Politik. Es ist der Ort der Unruhe der Bilder und ihrer Rolle in der Bedeutungserzeugung.
Für Ines Schaber selbst steht das fotografische Bild ebenfalls »zwischen Wissen und Sehen, in einem spukhaften, von schemenhaften Konturen und politischen Figurationen bevölkerten Schwellenraum, als ein von politischen Geschichten der Teilung geprägtes Feld. Ihre Arbeiten drehen sich oft um einzelne oder mehrere historische Fotografien, durch die Zeit geschickte Botschaften in Form von Briefen« und Kommentaren, sowie ihre eigenen Fotografien von Landschaften, die die Orte und Geschichten der gefundenen Bilder umkreisen. Sie reaktiviert die fragmenthafte und oft verschüttete Bedeutung von Orten und Ereignissen, als eine »Revolte gegen das Gegebene« und scheinbar Gesicherte.
Auch Sønke Gau geht in seinem Essay zu Uriel Orlow davon aus, dass Geschichte nicht einfach vorhanden ist und sich nicht als objektive, homogene und lineare Ordnung verstehen lässt. Methoden der Mikrohistorie sind ein zentraler Bezugspunkt des Künstlers, der für seine auf umfangreichen Recherchen basierenden Arbeiten ebenfalls Geschichten erforscht. »Dementsprechend sind Ausgangspunkte für Orlows Recherchen spezifische Orte, die sich als Nebenschauplätze beschreiben lassen. Orte, die mit Ereignissen zusammenhängen, die in der hegemonialen Geschichtsschreibung nicht berücksichtigt oder ausgelassen wurden. Es sind deren ›blinde Flecken‹, die deswegen jedoch nicht weniger bedeutend sind, sondern Knotenpunkte verschiedener Erzählungen darstellen.« Erneut: Ihre typische Prägung erhält eine Gesellschaft an ihren Rändern.
Dirck Möllmann schrieb vier Briefe an Willem de Rooij, in denen er jeweils eine Arbeit oder eine Serie des Künstlers in einer geradezu intimen Weise befragt und erweitert. »Ein Werk lebt wie Briefe von den Lücken in der Wirklichkeit, vom Stolpern in der Maschinerie der Bedeutung, die es problematisiert […]. Du verteilst Abbilder in neuer Weise und machst sie so zu Bildern. Sie problematisieren das Sehen und das Machen von Bildern. Ihr Kontext greift über in das Politische, die Verteilung wird bedeutsam, kritisch, reflexiv wie immer. Doch arbeitest Du dem Zwang der Referenzen entgegen. Diese Kraft zieht hier wie dort den Sinn in Schwebe.«
Das Vorläufige und Spekulative durchzieht alle drei Beiträge, wobei es ein fundamentales Missverständnis darstellen würde, dies mit Ungenauigkeit oder gar Beliebigkeit zu verwechseln, im Gegenteil: »Das Einkalkulieren von Kräften der Ambiguität entbindet nie von historischer Präzision, wenn man das Bild als Grenzbedingung versteht.« (Franke)
In einem erweiterten Forum stellen wir zehn junge Positionen vor, die unterschiedliche Tendenzen der zeitgenössischen Fotografie abbilden: etwa formale Experimente, installative und performative Ansätze, das Bearbeiten oder Anlegen von Bildarchiven. Geschichten spielen auch darin immer wieder eine Rolle.